Ethypharm: Wie hat sich das Verschreibungsvolumen für medizinisches Cannabis in den letzten Monaten oder Jahren entwickelt?
Florian Heimann: Die Gesetzesänderung, wonach cannabishaltige Arzneimittel verschrieben werden können, erfolgte in Deutschland im Jahr 2017. Die Zahl der Verschreibungen und das Kundenaufkommen für medizinisches Cannabis in den Apotheken sind seither stetig gestiegen. Das Wachstum in den Jahren 2018 bis 2020 war sicherlich stärker als im Jahr 2021. Der Markt wächst immer noch, aber deutlich langsamer. Es gibt Vergleiche zu anderen Ländern, in denen erfahrungsgemäß 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung von cannabishaltigen Arzneimitteln profitieren können. In Deutschland wären das etwa 1.000.000 Patienten. Tatsächlich sind wir aber erst bei 150.000 bis 200.000 Patienten.
2017 wurde mit der Gesetzesänderung politisch ein Medikament oder eine Therapieoption auf den Markt gebracht. Dieser Schritt kam für etliche Ärzte sicherlich überraschend, sodass sie sich nicht darauf vorbereiten konnten. Viele Kongresse und neue Studien füllen nun diese Lücke. Viele Ärzte sind an einer gezielten Fortbildung interessiert. Aber es gibt auch immer noch Ärzte und Apotheker, die sie ablehnen.
Welchen Einfluss wird die neue Regierung auf den medizinischen Cannabismarkt haben?
Im Hinblick auf die neue Regierung, die eine Legalisierung von Cannabis als Genussmittel in Ihren Koaltisationsvertrag aufgenommen hat, gehe ich davon aus, dass dies in dieser Legislaturperiode auch umgesetzt wird. Wie und wann, ist natürlich noch offen. Diskutiert wird derzeit die Möglichkeit der Abgabe von Cannabis in Apotheken und/oder aber auch in lizenzierten Geschäften. Da stellt sich für mich die Frage, welche Art von Lizenz oder Qualifikation das sein wird.
Grundsätzlich haben Apotheken in den letzten Jahren viel Erfahrung sammeln können. THC und CBD sind potente Substanzen, die aber auch sehr beratungsintensiv sind. Wenn der Gesetzgeber eine Gesundheitsschutzberatung auch bei der Verwendung als Genussmittel vorsieht, sind Apotheken hier natürlich ein kompetenter Partner. Ich sehe auch die Unterscheidung zwischen medizinischem Gebrauch und Freizeitkonsum. Bei der medizinischen Verwendung von Cannabis ist das Ziel des Patienten, alltagstauglich zu werden, mehr Lebensqualität zu bekommen, die negativen Symptome der Behandlung seiner Krankheit in den Griff zu bekommen. Beim Freizeitkonsum wird Cannabis zu einem Genussmittel oder auch Lifestyle Produkt. Für mich sind das zwei völlig unterschiedliche Ziele. Ich würde mir wünschen, dass in der Politik, auch nach der Legalisierung, diese als zwei unterschiedliche Bereiche gesehen werden.
Welche Rolle hat die Apotheke bei medizinischem Cannabis in der Interaktion mit dem Arzt und dem Patienten übernommen?
Grundsätzlich freut es mich, dass die Apotheke eine so große Rolle bei der Betreuung und Versorgung von Cannabis-Patienten spielt. Eigentlich besteht unsere Rolle hier aus dem ursprünglichen Berufsbild des Apothekers, nämlich aus einer auf Rezept verordneten Heilpflanze ein individuelles Medikament herzustellen. Die Erfahrungen, die wir bei der Beratung und Betreuung von Patienten machen, geben wir in Beratungsgesprächen weiter. Wir führen jeden Monat viele hundert Beratungsgespräche zum Thema medizinisches Cannabis. Dieser Erfahrungsschatz, den wir haben, ist vielleicht größer als der eines nicht spezialisierten Arztes. Er ist unser wertvollstes Kapital, das wir intern an neue Mitarbeiter weitergeben und in der Beratung von Ärzten und Patienten zur Verfügung stellen. Da es noch nicht genügend Daten und Leitlinien gibt, können wir unsere Erfahrungen bei der Wahl der Darreichungsform, ob inhalativ oder oral, der Dosisfindung, den Nebenwirkungen und Kontraindikationen, den bürokratischen Hürden und vielem mehr einbringen.
Sie wünschen sich Informationen zum Einsatz von Cannabis in der Schmerztherapie?
Sind die Patienten, die zu Ihnen kommen, gut informiert?
Es gibt nicht den Patienten, den ich hier beschreiben könnte. Aber gerade bei Cannabis haben wir es oft mit Patienten zu tun, die viel darüber wissen, weil sie durch die Umstände gezwungen waren, ihre Beschwerden durch den privaten Gebrauch von Cannabis zu behandeln. Dadurch haben sie Vorerfahrungen gesammelt. So hatten sie vor allem vor 2017 sicherlich mehr Informationen über die Verwendung und Dosierung von Cannabis als wir in der Apotheke oder als die Ärzte.
Wir haben auch Patienten, die sich mit Cannabis überhaupt nicht auskennen, aber schon seit vielen Jahren eine Verbesserung ihrer Lebensqualität suchen. Diese Personen haben meistens eine lange Leidensgeschichte hinter sich und haben durch die Medienpräsenz dieses Themas die Hoffnung, dass Cannabis helfen kann. Die Patienten kommen mit vielen Fragen. Das Stigma, mit dem die Patienten bei der Verwendung von Cannabis konfrontiert sind, ist ein Thema. Ein anderes Thema ist die Angst der Patienten, die keine Erfahrung damit haben und sich fragen, was sie sich und ihrem Körper jetzt antun.
Erleben Sie eine positive Wirkung bei Patienten durch die Einnahme von medizinischem Cannabis?
Cannabis ist keine Wundermedizin. Niemand würde behaupten, dass es bei jeder Indikation hilft. In der Apotheke bekommen wir überwiegend Rückmeldungen von Patienten, die mit der Cannabis-Therapie Erfolg hatten. Über diese Gespräche freuen wir uns, das sind Geschichten über lange Leidensgeschichten und über Therapieerfolge mit medizinischem Cannabis, die den Menschen eine bessere Lebensqualität gebracht haben. Aber daraus zu schließen, dass dies bei jedem Patienten funktioniert, ist natürlich nicht der Fall. Aber wir bekommen diese Rückmeldung eher bei Therapieerfolgen als bei Therapieabbrüchen.
Trotzdem bekommen wir auch häufiger zu hören: Ja, es hat mir geholfen, aber ich habe diese und jene Nebenwirkung. Dann können wir mit unserer Erfahrung helfen und vielleicht einen Wechsel des Präparats, eine andere Dosierung oder Darreichungsform empfehlen.
Haben Sie Erfahrungen mit Missbrauch oder Versuchen, sich medizinisches Cannabis illegal zu beschaffen?
Ich denke, dass es bei vielen Medikamenten Missbrauch gibt. Es gibt wahrscheinlich keine Möglichkeit, ihn zu verhindern. Das fängt bei Nasensprays, Schmerzmitteln, Schlaftabletten usw. an. Diesen Missbrauch gibt es sicherlich auch bei Cannabis. Deshalb möchte ich die Rolle der Ärzte bei der Beurteilung des Nutzens von medizinischem Cannabis gestärkt sehen, denn sie haben die beste Möglichkeit und das beste Wissen, um ihre eigenen Patienten zu beurteilen und zu entscheiden, ob Cannabis medizinisch notwendig und ob ein therapeutischer Erfolg zu erhoffen ist. Sie sollen die Therapiehoheit wie bei anderen Behandlungen haben.
Bei der Einführung des Cannabisgesetzes im Jahr 2017 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass die Krankenkassen die Therapiekosten übernehmen sollen, wenn die Patienten medizinisch austherapiert sind und ein Therapieerfolg mit medizinischem Cannabis zu erwarten ist. Nur in begründeten Ausnahmefällen dürfen sie diese verweigern. Derzeit liegt die Quote der Ausnahmefälle bei etwa 35–40 Prozent. Das widerspricht ein wenig der ursprünglichen Intention. Denn die Ausnahmefälle können nicht 35 bis 40 Prozent betragen.
Mit anderen Worten: Wo ist bei der Beurteilung etwas schiefgelaufen? Liegt es an formalen Fehlern, an der Fehleinschätzung seitens der Krankenkasse?
Letztlich hat das für die Patienten sehr unangenehme Folgen, sowohl finanziell als auch krankheitsbedingt. Ob falsche Angaben von Patienten eine große Rolle spielen, kann ich nicht beurteilen. Nach unseren Erfahrungen mit unseren Patienten ist der Missbrauch gefühlt gleich Null. Wenn ich mir die Lebens- und Leidensgeschichten der Patienten anhöre, möchte ich nicht mit ihnen tauschen und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich das jetzt ausdenken, um Cannabis als Genussmittel zu bekommen. Vielmehr müssen sich die Patienten der Stigmatisierung stellen und sich in Situationen rechtfertigen, in denen sie ihr Medikament einnehmen.
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